Leitbild im Wandel
Erfahrungen aus der Landschaftsökologie stellen alte Lehrmeinungen in Frage und verlangen eine Neubewertung vorhandener Erkenntnisse
Seit den frühen 1980er Jahren ist ausgehend von einem zunächst kleinen Kreis kritischer Wissenschaftler und Praktiker ein Umdenken in grundlegenden Fragen mitteleuropäischer Landschaftsökologie erkennbar.
Die bis dahin unangefochtene Lehrmeinung vom weitgehend „geschlossenen wildtierarmen Urwald“ als Leitbild für die Naturlandschaft Mitteleuropas wird zunehmend hinterfragt. Die landschaftsgestaltende Rolle der großen Weidegänger kommt vermehrt ins Blickfeld und gewinnt in der Diskussion und in der Praxis eine immer größer werdende Bedeutung.
Bisher als gesichert geltende Belege für die althergebrachten Anschauungen erweisen sich bei näherem Hinsehen als zwar gutgemeinte und in bester Absicht getroffene, aber dennoch vorschnelle Vermutungen und Annahmen mit vielerlei Schwachstellen.
Das besagte Leitbild der „geschlossenen wildtierarmen Urwälder“ wurde daher in Fachkreisen zunehmend von einer differenzierteren Betrachtungsweise ersetzt:
Entsprechend der geologischen und kleinklimatischen Vielfalt mitteleuropäischer Landschaften werden auch entsprechend vielfältige und kleinräumig differenzierte Landschaftsformen / Landschaftsbilder und Lebensraumtypen (also eher dynamisch-variable Leitbilder) für angemessener und der historischen / prähistorischen Realität für näher kommend erachtet.
Dabei reicht das Spektrum der Möglichkeiten von dicht geschlossenen Wäldern mit geringen Wildtierdichten bis hin zum baumsavannenähnlichen Offenland mit großen, bei hohem Nahrungsangebot im Offenland ggf. auch riesigen Wildtierherden.
Auszugehen ist also von Landschaften und Lebensräumen in allen denkbaren Übergängen und mit Jahrhunderte langen Phasen von dynamischer Wandlung und gegenseitiger Durchdringung vielfältigster Lebensgemeinschaften.
Das Bild wird also reicher!
Darüber hinaus eröffnen die neuen Sichtweisen in vielen Problemfällen des Artenschutzes weitreichend neue Perspektiven und erleichtern die Integration von Artenschutzanliegen in Prozessschutzgebieten. Alte Widersprüche sind auflösbar. Viele bisher für unvereinbar gehaltene Standpunkte erscheinen in ganz neuem, versöhnlicherem (weil differenzierterem) Licht.
Allerdings müssen auch liebgewordene „Wahrheiten“ hinterfragt und ggf. über Bord geworfen werden. Bewegung ist notwendig und alteingefahrene Vorgehensweisen müssen den aktuellen Entwicklungen angepasst werden.
Da besagte Entwicklungen am Nationalpark Bayerischer Wald bisher jedoch nahezu spurlos vorübergegangen sind, besteht hier mittlerweile dringender Nachholbedarf.
Dringend geboten ist die Überprüfung sämtlicher Verlautbarungen auf Vereinbarkeit der jeweiligen Aussagen mit dem oben dargelegten Stand der wissenschaftlichen Diskussion: Undifferenzierte Aussagen von einer ehemaligen „Urwald“-Landschaft Mitteleuropas müssen der Vergangenheit angehören.
Auch die Region des Bayerisch-Böhmischen Grenzgebirges kann, so gut sie heute
wildtierarmes Waldland ist, nach derzeitigem Wissensstand ebenso gut auch Jahrhunderte lang aus großflächigen
wildtierreichen „Schachten“- Landschaften bestanden haben
Konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse sind in Form einer Reintegration großer Pflanzenfresser zu treffen. Dabei müssen keineswegs Reizthemen aktiviert werden. Die Auswilderung von vorurteilbelasteten Großtieren kann aktuell nicht auf der Tagesordnung stehen!
Dringend angesagt und angesichts der anderenorts bereits jahrelang erfolgreich arbeitenden Vorreiter-Projekte längst überfällig ist allerdings eine ökologisch orientierte Wiedereinführung der Waldbeweidung durch Rinder, zunächst als Pilotprojekt im Umgriff der Schachten.
Hier bietet sich ein Einstieg in ein zukunftsweisendes und vor allem in ein von der örtlichen Bevölkerung sicherlich wohlwollend begleitetes Pilotprojekt in naheliegenster Weise an.
Es wird im Bayerisch- Böhmischen Grenzgebirge kaum ein augenfälligeres Beispiel für die Notwendigkeit des Umdenkens im oben geschilderten Sinne zu finden sein, als die ökologische Situation im Umfeld der Schachten.
Vom Auerhuhn über die Pflanzenwelt der Bergweiden bis hin zum Insektenleben: Hier ist der verlorengegangene Einfluss der großen Weidegänger geradezu mit Händen zu greifen.
Und gerade hier ist es aber andererseits auch ein Leichtes, diesen Einfluss in feinst dosierbarer und gut kontrollierbarer Weise sinnvoll wieder herzustellen.
Dringend erforderlich ist des Weiteren auch die Behandlung des Themas an prominenter Stelle im Rahmen der Umweltbildung des Nationalparks, z. B. in Form einer Dauer-, bzw. Wanderausstellung an geeignetem Ort.
Die durch mangelhafte Kommunikation verursachten unnötigen Berührungsängste in Bezug auf die angesprochene Thematik und die damit verbundenen allfälligen Tabuisierungsversuche hemmen mögliche positive Entwicklungen derzeit noch immer auf allen Ebenen. Sie haben außerdem, wie oben schon angedeutet, bereits vielfach zu einem Diskurs-Niveau geführt, das nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht.
Der Nationalpark Bayerischer Wald sollte die Zeichen der Zeit erkennen, da
anderenfalls das Prädikat
„Erster und Ältester Deutscher Nationalpark“
sich leicht von einem positiven Prädikat
zu einer eher doppeldeutigen Bedeutung wandeln könnte.
Autor: Thomas Zipp, Klausenweg 3, 94 089 Neureichenau, Tel.: 08583 / 1847, e-mail: thomas.zipp@web.de (1. August 2010)